Das Zeitalter des Barocks und seine Literatur sind stark geprägt von der Antithetik. Die Menschen waren hin und her gerissen zwischen Gegensätzen wie Leben und Tod, Pflicht und Freiheit, Glaube und Zweifel. Kurz gesagt war es ein Denken zwischen den zentralen Motiven des Barocks: «carpe diem» (lateinische für «geniesse den Tag») und «memento mori» (lateinisch für «bedenke, dass du stirbst»).
Auch wenn der Barock wie eine weit entfernte Zeit wirkt, fällt einem bei genauerem Hinsehen die Zeitlosigkeit dieser Motive auf. Sie lassen sich auch auf unser heutiges Denken und unsere gegenwärtigen Probleme anwenden. Wir sind hin und her gerissen zwischen der Klimakrise, Pandemien und Kriegen einerseits und Feiern und Konsum andererseits.
Auf der einen Seite wirken die Motive des Barocks widersprüchlich. Man fragt sich, warum man irgendein Ziel anstreben soll, weshalb es sich für etwas zu kämpfen lohnt oder wie man die Tage geniessen kann, wenn eh alles ein Ende hat. Auf der anderen Seite kann auch das eine das andere begründen. Das Leben soll genossen werden, weil es endlich ist. Jeder Tag soll genutzt werden, weil er der letzte sein könnte. Beide Motive gehen also auf das Vergänglichkeitsmotiv «Vanitas» zurück.
Unter dem Gedanken der Zeitlosigkeit der Motive aus dem Barock kann also auch der Inhalt eines typischen Barockgedichts auf eine moderne Weise interpretiert werden. Ein Beispiel ist das Gedicht «Es ist alles Eitel» von 1643 von Andreas Gryphius (1616-1664).
1 Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
2 Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein,
3 Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein,
4 Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.
5 Was itzund prächtig blüht, soll bald zutreten werden.
6 Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
7 Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
8 Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
9 Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
10 Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
11 Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten,
12 Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,
13 Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t.
14 Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten.
Was zu Beginn wichtig zu bemerken ist, ist das mit Eitelkeit (Vanitas) aus heutigem Verständnis vor allem Vergänglichkeit gemeint. Das sieht man schon im ersten Vers, in dem Gryphius ausdrückt, dass alles auf der Erde vergänglich ist. Der zweite Vers kann auf die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit bezogen werden. Ein Trend wird beispielsweise am einen Tag gefeiert und am nächsten Tag schon wieder vergessen.
Im dritten Vers wird auf Kriege angespielt, die heute wieder so präsent sind wie lange nicht mehr.
Beim fünften Vers muss man zuerst vor allem an eine Blume denken, man könnte ihn jedoch auch auf das gegenwärtige Problem der Fast Fashion beziehen. Ein schönes Kleidungsstück wird sehr kurz getragen und aufgrund seines billigen Preises und der schlechten Qualität wird es kurz später wieder weggeworfen.
Der achte Vers kann auf alle umweltverschmutzenden Folgen unseres Handelns bezogen werden. Wir fliegen, essen Fleisch und benutzen neuste technische Geräte (das Glück, das uns anlacht) ohne Rücksicht auf die Emissionen, die dabei entstehen, und die verheerenden Konsequenzen, die der daraus folgende Klimawandel mit sich bringt (die donnernden Beschwerden).
Der neunte Vers geht darauf ein, dass alles ruhmvolle, was Menschen leisten vergänglich ist. Wird ein Weltrekord im Sport heute gefeiert, wird er bald wieder übertroffen sein. Das «Spiel der Zeit» im zehnten Vers ist vermutlich eine Metapher für das Leben und seine Endlichkeit. Es kann argumentiert werden, dass dieser Vers zur heutigen Zeit sogar noch viel besser passt als zum Barock, da sich heutzutage alles in unserem Alltag um die Zeit dreht. Alles wird nach ihr strukturiert. Wann wir aufstehen, arbeiten, essen, lernen, Zug fahren oder schlafen. Im Barock hatte noch lange nicht mal jeder Mensch eine Uhr.
Nach dieser gegenwartsbezogenen Interpretation dieses Gedichts wird die Zeitlosigkeit der barocken Motive deutlicher. «Vanitas», «memento mori» und «carpe diem» sind überall und jeder Mensch hat einen Bezug zu ihnen.
Quellen:
https://www.literaturtipps.de/topthema/thema/was_uns_der_barock_heute_noch_lehren_kann.html
https://buchblog.schreibtrieb.com/die-epoche-des-barock-damals-und-heute
Unterlagen aus dem Deutschunterricht