Werden in unserem Land 20 Prozent der Bevölkerung ausgeschlossen? Jeder fünfte Mensch in der Schweiz hat eine Beeinträchtigung und davon sind 40’000 stark oder sehr stark beeinträchtigt. Sie alle haben Mühe einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Wie stünde es um die Chancengleichheit, wenn Unternehmen verpflichtet wären, einen bestimmten Anteil ihrer Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen zu reservieren, wäre dies die Lösung «aller» Probleme, oder würde das nur noch für mehr Konflikte sorgen?
Stellen Sie sich einen Pinguin auf dem Eis vor. An Land wirkt er ziemlich unbeholfen. Er watschelt, stolpert vielleicht und erscheint wenig effizient. Doch springt er ins Wasser, entfaltet er sein volles Potenzial: Er gleitet mühelos, ist schnell und wendig. Genau dieses Bild nutzt Valentino Deplano, Abteilungsleiter in der GEWA, um zu veranschaulichen, wie wichtig das richtige Umfeld für Menschen ist – ob mit oder ohne Beeinträchtigung. Doch nicht jeder findet dieses Umfeld. Während einige Menschen selbstverständlich im Arbeitsmarkt Fuss fassen, stossen andere auf unsichtbare Barrieren. Oft entscheiden nicht die Fähigkeiten, sondern die Rahmenbedingungen über Chancen und Möglichkeiten.
Es ist Samstag und viele Menschen suchen sich im Bärner Brocki ein neues passendes Kleidungsstück oder das passende Spiel für den Spieleabend. Einige Leseratten zieht es in die Bücherabteilung, damit sie ihre Nasen in spannende Bücher stecken können. In dieser Abteilung arbeitet auch Isabelle Schneider (Name geändert). Sie berät Kunden, die sich beispielsweise nicht ganz sicher sind, welches Buch sie ihrer Tochter zum Geburtstag schenken wollen oder über welche Lektüre sie in ihrem Buchclub debattieren wollen. Zudem recherchiert sie im Internet mögliche Preise für die Bücher. Sie scheint glücklich und vertieft in ihre Aufgabe zu sein. «Ich arbeite sehr gerne im Brocki, besonders gefällt mir der Kundenkontakt und die Vielfältigkeit in der Arbeit. Ich habe schon in der Haushaltsabteilung und an der Kasse gearbeitet», erzählt uns Frau Schneider mit einem Lächeln auf dem Gesicht, «doch bei den Büchern fühle ich mich besonders wohl.» Sie arbeitet nun schon seit fünf Jahren in der Bärner Brocki.
Die Bärner Brocki in der Lorraine gehört zur GEWA, eine Stiftung der beruflichen Integration mit Sitz in Zollikofen, Personen mit Beeinträchtigungen einen Arbeitsplatz im zweiten Arbeitsmarkt bietet.
Ursprünglich hat Frau Schneider die Ausbildung zur Pharmaassistentin gemacht und danach die Handelsschule abgeschlossen. Nach etlichen Jahren im 1. Arbeitsmarkt musste sie aus gesundheitlichen Gründen eine Pause einlegen. Später hat sie wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen wollen. Doch das hat sich als schwieriger erwiesen, als erwartet. Sie hat versucht, mit mehreren Integrationsmöglichkeiten, beispielsweise durch Hilfe der GEWA einen neuen passenden Job zu finden. «Leider habe ich keinen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt gefunden», schildert uns Isabelle Schneider bedauernd.
«Wenn einmal im Lebenslauf eine Lücke herrscht, sind die Arbeitgeber misstrauisch.»
Die GEWA ist ein sozialwirtschaftliches Unternehmen mit dem Ziel, Menschen mit psychischen Herausforderungen einerseits in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren oder sie in den zweiten Arbeitsmarkt zu inkludieren. Der zweite Arbeitsmarkt bietet Arbeitsverhältnisse, die sowohl von Unternehmen als auch vom Staat unterstützt werden, um Menschen mit eingeschränktem Zugang zum ersten Arbeitsmarkt eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten. Dies wird als Inklusion bezeichnet. Von Integration wird gesprochen, wenn die Menschen dabei unterstützt werden, sich körperlich und psychisch so zu stabilisieren, damit sie bei einer Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können, die Arbeitsprozesse jedoch nicht für die Person angepasst werden.
«Es ist oftmals schwierig dem Umfeld zu erklären, dass man im zweiten Arbeitsmarkt arbeitet. Es gibt einem das Gefühl von Minderwertigkeit», meint Frau Schneider und senkt den Blick. Doch bei der Bärner Brocki wird sie gefördert und für ihre Arbeit anerkannt. Das ist für sie besonders wichtig.
«Ich habe dadurch wieder zu meinem Selbstvertrauen zurückgefunden.»
Besonders samstags kann die Arbeit herausfordernd werden, da so viele Menschen im Laden sind. Gemäss dem Leiter der Bärner Brocki verzeichnen sie an einem Samstag Besucherzahlen zwischen 1'500 und 2'500 Eintritten in irgendeine Tür im Gebäude, an einzelnen Spitzentagen sogar mehr. Frau Schneider wird gut von ihrem Chef unterstützt. «Bei meinem Chef habe ich mich schnell wohlgefühlt und er hat mich sehr gut begleitet», sagt sie dankbar.
«Ich würde es sehr begrüssen, wenn die Unternehmen dazu verpflichtet wären, einen bestimmten Anteil an Arbeitsplätzen für Menschen mit Herausforderungen zu reservieren», erläutert Frau Schneider bestimmt. «Denn vielen Menschen geht es ähnlich wie mir. Sie finden keinen Arbeitsplatz und verlieren so ihr Selbstvertrauen und eine Chance auf ihre Selbstverwirklichung sowie sich eigenständig ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ich glaube, viele Personen bräuchten nicht einmal eine spezielle Unterstützung und würden sich recht schnell selbst organisieren können. Ich hoffe wir werden bald einen grossen Schritt in die richtige Richtung machen.»
Isabelle Schneider kritisiert, dass zu wenige Aufstiegs- oder Integrationsmöglichkeiten im ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Beeinträchtigungen in der Schweiz bestehen. Laut Artikel 27 der UNO-Behindertenrechtskonvektion (UNO-BRK) ist jedem Menschen mit einer Beeinträchtigung ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben und ein Recht auf Beschäftigung wie auch das Recht auf gleiche Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben garantiert. In der Realität werden zwar viele Punkte der UNO-BRK angeschnitten, aber nicht konkretisiert oder sie scheitern bei der Umsetzung. Zudem wurde in der BFS-Statistik 2021 festgestellt, dass Arbeitnehmerinnen mit Beeinträchtigungen oftmals weniger zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz sind und öfter Diskriminierung oder Gewalt erleben. Mithilfe des zweiten Arbeitsmarktes konnten mehrere Arbeitsplätze geschaffen werden, die Beschäftigungen für Menschen mit Beeinträchtigungen garantieren. Die meisten Personen mit Behinderungen möchten jedoch gerne auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein und ihre Fähigkeiten einbringen. Gerade bei Menschen mit einer Teilrente wird aufgrund des Schweizer IV-Rentensystems davon ausgegangen, dass sie weiterhin arbeiten können und somit grösstenteils für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen können. Allerdings zeigen Studien, dass Menschen mit Beeinträchtigungen oftmals Schwierigkeiten haben, eine Arbeitsstelle zu finden oder der Lohn zu niedrig ist.
«Hhmm… da bin ich schon sehr kritisch», ist eine häufig wiederholte Phrase Daniel Bhends. Herr Bhend ist Leiter Wirtschaftspolitik beim Amt für Wirtschaft im Kanton Bern. Er glaubt, dass Unternehmen auf ein Gesetz, das einen Anteil an Arbeitsplätzen für Menschen mit Beeinträchtigungen reserviert tendenziell zurückhaltend oder ablehnend reagieren würden. Das liegt daran, dass die Einführung eines Gesetzes eine angeordnete Pflicht ist, die zu Unsicherheit oder Aufwand führen kann. «Stellen Sie sich vor, dass Sie plötzlich eine neue Regelung umsetzen müssten, obwohl bis jetzt alles reibungslos funktioniert hat. Dies kann insbesondere bei KMUs zu einem Wettbewerbsnachteil führen und potenziell bedrohliche Folgen für das Überleben des Unternehmens haben.»
Mit der Integration einer Person mit Beeinträchtigung kann Unruhe im Team entstehen. Teammitglieder wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen und die Zusammenarbeit, wie auch die Effizienz könnte geschädigt werden. «Und wie sollte das mit dem Lohn geregelt werden?», er lässt die Frage eine Weile im Raum schweben, «Das Unternehmen hätte vielleicht eine weniger effiziente Person im Team. Soll das Unternehmen der Person einfach weniger Lohn zahlen? Was ist, wenn die Person schlussendlich, doch effizienter ist und mehr leistet als jemand anderes an ihrer Stelle?»
Bei diesen vielen Kritikpunkten betont Daniel Bhend immer, dass es bestimmt diverse Einzelfälle gäbe, bei denen die Anstellung einer Person mit einer gewissen Beeinträchtigung gut funktionieren würde. Das Problem käme dann, wenn es eine gesetzliche Vorschrift wird. «Und wer würde das Ganze überhaupt kontrollieren?», wirft Herr Bhend forsch ein. «Es gäbe schliesslich keine Behörde, die für diesen riesigen Berg von Administrationen, zuständig wäre. Eine gute Kontrolle wäre wahrscheinlich von Nöten.» Daniel Bhend vermutet nämlich, dass die Unternehmen nach möglichen Schlupf-löchern suchen würden: «Es wird ja immer und überall versucht ‘z’bschiisse’, bei jeder Gelegenheit», sagt er mit einem Schmunzeln. Falls Arbeitnehmende mit Beeinträchtigungen zum Beispiel günstiger eingestellt werden könnten, bestünde ein gewisses Missbrauchspotenzial bei den Unternehmen. Ansonsten, wenn es keine solche Schlupflöcher gäbe, dürfte es auch kaum eine Verdrängung der anderen Arbeitnehmenden durch einen festgelegten Anteil an Arbeitsplätzen für Menschen mit Beeinträchtigungen geben.
«Die Personen mit Beeinträchtigungen stehen nun mal nicht in direkter Konkurrenz zu den Arbeitnehmenden ohne Beeinträchtigung.»
Nach diesen verschiedensten Kritikpunkten stellt sich unweigerlich die Frage: Was wäre denn die Alternative zu solch einer Regelung? Darauf antwortet Herr Bhend mit einem leichten Augenzwinkern: «Die gesellschaftliche Akzeptanz und Integration einfach ausserhalb der wettbewerbsorientierten Wirtschaft fördern.» Er gibt selbst zu, dass diese Antwort etwas «schiinheilig» sei. «Grundsätzlich fänden wir’s ja alle gut, wenn diese Menschen integriert wären, eine Aufgabe hätten und im besten Fall noch ihren Lebensunterhalt mindestens teilweise selbst finanzieren könnten.» Herr Bhend seufzt. «Bei der Umsetzung gibt es einfach Schwierigkeiten, denn wenn es sich für die Unternehmen nicht rentiert, schadet es nun mal der Wirtschaft.»
Anderer Meinung als Herr Bhend ist Herr Deplano, Abteilungsleiter in der GEWA im Bereich Berufliche Integration. Er denkt, wenn es solche Plätze gäbe, wäre dies ein Gewinn in jeder Hinsicht: für die Wirtschaft, Unternehmen und Personen. «Jedoch müssten davor andere Schwierigkeiten gelöst werden und eine Sensibilisierung der Unternehmen stattfinden», betont er. Arbeitgebende müssten an Schulungen im Umgang mit solchen Personen teilnehmen und es müsste eine dringende Entstigmatisierung stattfinden. Herr Deplano findet auch, dass Unternehmungen, die eine Bereitschaft zeigen und sich für solche Personen anpassen, belohnt werden sollten. Eine solche Regelung verlangt Flexibilität und Lösungsorientiertheit der Unternehmen, bringt aber schlussendlich auf jeden Fall eine Bereicherung. Auf der einen Seite müssten zuerst einmal die richtigen Bedingungen geschaffen werden, damit dann auf der anderen Seite in jeglicher Hinsicht ein Gewinn erzielt werden kann.
«Es müssen somit immer beide Seiten der Medaille betrachtet werden.»
Die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in den Arbeitsmarkt bleibt also eine Herausforderung. Während eine gesetzliche Quote gewisse Chancen bieten könnte, fürchten Unternehmen Bürokratie und wirtschaftliche Risiken. Die Integration ist ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren, doch einen gilt es besonders zu beachten: Die Arbeitnehmenden müssen den für sie persönlich passenden Arbeitsplatz haben, damit sie ihre Fähigkeiten voll und ganz entfalten können. So wie der Pinguin seine Stärken im Wasser hat, so hat auch jeder von uns seine Stärken in bestimmten Bereichen.
Eine Reportage von Leana Marthaler und Valentina Kuhn